Eine Einführung in die Kehrseite der Musik

Der Schriftsteller Frido Mann führt die Leser in einem autobiographisch gefärbten Essay durch die europäische Musikgeschichte. Er untersucht in dem Werk die Doppelbödigkeit der Musik. Nicht der reine ästhetische Aspekt steht im Vordergrund seiner Analyse, sondern die verführerische und einflussnehmende Seite der Musik.


Frido Mann gehört zu den vielseitig begabten deutschsprachigen Intellektuellen. Wissenschaftlich hat er sich auf dem Gebiet der Psychologie und Theologie einen Namen gemacht, auf künstlerischem Gebiet wandelt er zwischen der Literatur und Musik. Sein literarischer Erstling war der autobiographisch gefärbte Roman Professor Parsifal, in dem er sich indirekt mit der individuellen Emanzipation von der „Familie Mann“ auseinandersetzte und sein Verhältnis zum Über-Großvater Thomas Mann auslotete. Nach weiteren Romanen und Essays veröffentlichte er im Jahre 2008 die Autobiographie Achterbahn.

Im letzten Jahr publizierte der Verlag Fischer Taschenbuch den autobiographischen Essay „An die Musik“. Frido Manns jüngstes Werk war zu diesem Zeitpunkt schon länger auf dem Markt, denn schon ein Jahr vorher führte der Diederichs Verlag den Essay als E-Book in seinem Programm.

Der Titel „An die Musik“ bezieht sich einerseits auf das gleichnamige romantische Gedicht des Dichters Franz von Schober und das darauf basierende Kunstlied von Franz Schubert, welches dem Werk als Motto vorangestellt ist. Das lyrische Ich des Gedichtes besingt geradezu hymnisch die heilende und erhebende Kraft der Musik. Doch schwingt in dem Titel auch eine Anspielung an die Ode „An die Freude“ von Friedrich Schiller mit, die Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertont hat. Denn die Musik wird auch als eine universalistische Kunst aufgefasst, die von allen Menschen verstanden wird und eine allumfassende, verbindende Wirkung hat.

Die romantisch-verklärte Sichtweise auf der Musik als Heilsbringer und Sinnstifter, die Schober in seinem Gedicht anführt („Hast mich in eine bess´re Welt entrückt!“), verweist auch auf die Schattenseite dieser Kunst.

„Die Musik ist dämonisches Gebiet […]. Sie ist christliche Kunst mit negativen Vorzeichen. Sie ist berechnetste Ordnung und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich, […] die der Wirklichkeit fernste und zugleich passionierteste der Künste, abstrakt und mythisch.“ So schreibt Thomas Mann in seinem Aufsatz Deutschland und die Deutschen (1945) und meint die Gefährdung durch die affektiven Wirkungen der äußerlich doch rational komponierten Musik, also den dionysischen Rausch. Das musikalische Werk spricht nicht nur die ästhetisch und erkennende Seite des Geistes an, sondern fordert auch die Empfindung und das Gefühl heraus. Doktor Faustus hätte Komponist sein sollen, klagt Thomas Mann in seinem Essay, denn im Grunde war er sich der doppelbödigen Wirkung der Musik auf das Individuum bewusst.

Frido Mann versucht in seinem autobiographischen Essay, genau diese Gratwanderung zwischen der „aufbauenden und der verführerischen Kraft der Musik“ im Ablauf der neueren Musikgeschichte genauer zu untersuchen. Die Textsorte Essay behandelt ein kulturelles Phänomen ausgehend von einer bestimmten Fragestellung. In dem Eingangskapitel seines Werkes stellt Frido Mann dem Leser daher einen umfangreichen Fragenkatalog vor, den er in seiner Analyse behandeln möchte. Er geht in einer historischen Längsschnittanalyse vor und erläutert die musikhistorische Entwicklung in Europa von der Renaissance bis zur Moderne. Der Autor konzentriert sich auf den üblichen Kanon der Komponisten: von Monteverdi über Bach, die großen Drei der Wiener Klassik bis zu den bekannten Vertretern Neuen Musik wie SchönbergHenze und Stockhausen. Garniert wird die Analyse durch persönliche musikalische Erfahrungen und Gespräche mit Musikern, die eine persönliche und subjektive Ebene zur sachlichen Analyse hinzufügt.

Schon im einleitenden Kapitel zeigt sich deutlich, dass sich die autobiographischen Sequenzen und die historischen Analysen zu einer Einheit ergänzen. Zur Verdeutlichung des im Essay zu diskutierenden musikalischen Phänomens, also die Dämonie in der Musik, erzählt Frido Mann in den ersten Abschnitten des Kapitels von der Vorstellung eines Dokumentarfilms über den Komponisten Norbert Schultze anlässlich einer Lesung in Brasilien. Eine Filmsequenz hebt der Autor in seiner Erinnerung besonders hervor: als der Komponist Schultze von dem Moment berichtet, in dem der Propagandaminister Goebbels in die Partitur eines Parteiliedes eingreift, um mittels einer Kunstpause einen rhetorischen Effekt zu erzeugen. Hier zeigt der Autor seinem Leser ganz konkret, wie die Musik als Medium für Ideologien und politische Ideen genutzt werden kann.In der Darstellung der Musikgeschichte fällt auf, dass er neben der Betrachtung der allmählichen Loslösung der Musik aus dem sakralen Bereich auch auf die historischen Anfänge der modernen Tonalitätsauflösung eingeht. Diese Beispiele aus der Vormoderne sollen insbesondere den interessierten Laien auf eine nicht unumstrittene Epoche der Musikgeschichte einstimmen: die musikalische Moderne. Frido Mann behandelt die Entstehung der Neuen Musik um Arnold Schönberg ausführlich, da gerade dieser Komponist im Schlüsselwerk seines Großvaters eine besondere Rolle einnimmt. Der Thomas Mann-Enkel bleibt zu den Nachfolgern jener Zweiten Wiener Schule auf emotionaler Distanz, auch wenn er die Intentionen der Nachkriegsavantgarde, nämlich die Reaktion auf den emotionalen Missbrauch der Musik durch den Nationalsozialismus, anerkennt:

„Anders als die noch expressiv ausgerichtete und um Wahrheitsfindung bemühte Zwölftontechnik Schönbergs ist die serielle Musik in meinen Augen nicht nur eine ästhetikfreie, sondern auch sinn- und wertfreie, reine Mathematisierung von Musikverläufen ohne erkennbare Emotionalität, gefangen in einem ausgeklügelten System aus immer gleichzeitig, einzuhaltenden verschiedenen Tonreihungsprinzipien und -regeln.“

Als „Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit“ sieht Frido Mann die Komponisten der Postmoderne, die sich von musikideologischen Zwängen lösen und als offen für musikalische Experimente zeigen.

Natürlich könnte man meinen, dass ein Blick in ein gängiges Musiklexikon die Lektüre dieses Essays mühelos ersetzen könnte, doch Frido Mann erzählt den Ablauf der europäischen Musikgeschichte für den musikalischen Laien klar, verständlich und in vielen Passagen auch unterhaltsam. Durch den gelegentlichen Einschub von autobiographischen Passagen und persönlichen Einblicken in die eigene Musikerfahrung vermeidet der Autor ein Abdriften in allzu theoretische Diskurse. Sprachlich bleibt er wohltuend sachlich und vermeidet auch bei den subjektiven Erinnerungen jeden übertriebenen Pathos.

Bibliografische Angabe:

Frido Mann: An die Musik. Ein autobiographischer Essay.Fischer Taschenbuch Verlag 2015. 332 S., 10,99 €. ISBN: 978-3-596-03376-8.

Artikel erschien zuerst in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift „Die Tonkunst“ im Jahr 2017: Dickel, Matthias: Rezension zu „Frido Mann: An die Musik. Ein autobiographischer Essay“ In: DIE TONKUNST, Weimar, Heft I/2017, S. 93 – 94.

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