Von Matthias Dickel, M.A.
Der Penguin Verlag legt einzelne Werke des Autors Walter Kempowski neu auf. Im Jahre 2016 startete der Verlag mit der Neuauflage des schon lange vergriffenen zweiten Teils des Echolot-Projektes, die den Leser die dramatischen Ereignisse in der Zeit Januar und Februar 1943 nacherleben lässt: die Schlacht um Stalingrad, die Hinrichtung der Geschwister Scholl und Goebbels Aufruf zum totalen Krieg.
Der Beginn des zweiten Weltkrieges liegt nun schon über siebzig Jahre zurück. Viele Namen, Schlachten und politische Ereignisse sind im Laufe der Jahre verblasst oder vergessen. Ein Verstehen dieses Teils der Geschichte setzt mit der Vergegenwärtigung des Vergangenen ein. Dies geschieht am leichtesten über zeitgenössische Quellen oder das Befragen von Zeitzeugen. Doch auch die letzten Zeitzeugen werden bald nur noch Namen und Daten sein, was bleibt sind ihre Erinnerungen, mit denen wir, falls diese schriftlich oder mündlich festgehalten wurden, wenigstens eine Ahnung von dem erlebten Leid und Glück erhalten können.
Im kollektiven Gedächtnis verbleiben die überlieferten Erinnerungen in Form von Geschichten, Denkmälern oder anderen kulturellen Objektivationen. Die Literatur prägt besonders diese Form des Gedächtnisses, da sie als Speicher- und Zirkulationsmedium spezielle Funktionen in sich trägt. Walter Kempowski hat mit seinem mehrbändigen Werk „Das Echolot“ versucht, die Stimmen vieler einzelner Personen einzufangen und in einen Zusammenhang zu setzen. Es steht abseits der traditionellen narrativen Geschichtsschreibung, da das Werk einerseits eine unkommentierte Dokumentation verschiedener Stimmen aus unterschiedlichen Quellen darstellt, andererseits durch die Collagetechnik zu einem einzigartigen Kunstwerk wird, welches speziellen ästhetischen Kompositionsmustern folgt.
Walter Kempowski versuchte schon in frühen Jahren sein Lebensschicksal auf besondere Weise zu verarbeiten. Schon kurz nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Bautzen, begann er seine Erfahrungen als politischer Häftling niederzuschreiben und in Bildern zu skizzieren. Sein Schicksal und das seiner Leidensgenossen sollte nicht ungehört bleiben. Seine Erinnerungen wurden zum Grundstein seines literarischen Archivs.
Im März 1978 notierte der Schriftsteller seine Idee zur Gründung eines Archivs für ungedruckte Lebenserinnerungen. Am Neujahrstag des Jahres 1980 eröffnete Walter Kempowski offiziell sein Archiv und veröffentlichte in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Suchanzeige. Die Resonanz war schon im ersten Monat seiner Gründung überraschend groß. Kempowski sammelte neben den Lebensbeschreibungen auch historische Photographien, Briefwechsel und Tagebücher.
Für Kempowski wird die Geschichte erfahrbar im erlebten Alltag der Menschen; ihre Lebensformen und Denkhaltungen werden vor dem Gesamtzusammenhang der historischen Entwicklung dechiffrierbar. Damit verweisen die Schicksale und Lebenswege in die Gegenwart und werden zum Spiegel der persönlichen Lebensanschauung.
In dem Collagenwerk „Das Echolot“ verzichtet Kempowski auf eine Erzählerstimme, die das Geschehen kommentiert und in einen Erzählfluss einbettet. Dadurch verwischen die Grenzen zwischen den einzelnen Stimmen, die Personen stehen gleichwertig nebeneinander. Es besteht die Gefahr eines naiven Geschichtsbildes, indem „die Guten, auch immer ein wenig böse sind, und die Bösen, auch von einer Mutter geboren wurden.“[1] Dieser intendierte Tabubruch stieß bei den Rezensenten auf Kritik, die in diesem Gestaltungsprinzip eine Verharmlosung der Geschichte vermuteten, da die Grenzen zwischen Täter und Opfer aufgehoben würden.
Mit der Komposition und dem Arrangement der verschiedenen Einzelstimmen soll das Vergangene begreifbarer gemacht werden. Gerade durch die unkommentierte Zusammenstellung soll dem Leser ein unmittelbares Einfühlen in den geschichtlichen Kontext ermöglicht werden, denn die fehlende Relativierung des Gesagten durch einen Erzähler ermöglicht dem Leser eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Aussagen der Stimmen. Die unausgesprochene Aufforderung zur selbständigen Erarbeitung des geschichtlichen Hintergrundes ist das geschichtspädagogische Prinzip des Schriftstellers Kempowski.
Die Frage nach der Schuld und den Ursachen kann und will der Autor in seinem Werk nicht beantworten; dem Leser verbleibt letztendlich die Aufgabe, Aufklärungsarbeit zu leisten. Das Echolot kann keine vollständige Abbildung des Geschichtsverlaufs leisten. Es soll der Prozess der Geschichte nicht mittels der offiziellen Quellen dokumentiert werden, sondern der Autor sucht dessen Auswirkungen im Alltäglichen und Individuellen. Kempowski formulierte in einem Interview dies so: „Das Allerprivateste ist auch das Allgemeinste.“
Die Quellen, auf die sich Kempowskis Werk stützen, bestehen zumeist aus veröffentlichten und unpublizierten Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefwechsel und auch Fotografien. Dabei sind die bürgerlichen Zeitzeugen, also Angestellte, Akademiker, Ärzte usw. eindeutig überrepräsentiert. Unter den Soldaten finden sich eindeutig viele, bei denen man einen höheren Bildungsabschluss vermuten kann. Der Anteil der Schriftsteller und anderer Künstler ist überraschend hoch. Die Darstellung im Sinne einer „Geschichte von unten“ ist in diesem Falle nur bedingt möglich.
Doch geht es Kempowski weder um die Rekonstruktion eines kausalen Geschichtsverlaufs, noch um eine Geschichtsschreibung im Sinne der „Oral history“. Das Echolot bleibt ein literarisches Werk, das ästhetischen Regeln folgt und von der Wechselbeziehung zwischen Autor und Leser lebt. Kempowskis Interesse folgt letztendlich der Fragestellung: „Wie wird Geschichte wahrgenommen, wie äußert sie sich in der Sprache und welche Eigendynamik entwickelt sie in der Erinnerung?“[2]
Walter Kempowski hat mit seinem Werk „Das Echolot“ versucht, in einem kollektiven Tagebuch individuelle Erinnerungen miteinander zu verknüpfen und ihnen in einem neuen Kontext einen anderen, umfassenderen Bedeutungszusammenhang zu geben. Durch den multiperspektivischen Rahmen überlässt der Autor dem Leser die Erarbeitung der Themen und Hauptfiguren. Es bleibt somit dem Leser überlassen, die zentralen Botschaften und Figuren des Werkes herauszuarbeiten und die eigene, ganz persönliche Version der historischen Ereignisse zu erzählen.
Bibliografische Angabe:
Walter Kempowski: Das Echolot Ein kollektives Tagebuch. Januar/Februar 1943. Penguin 2016. 3.056 Seiten. ISBN: 978-3-328-10076-8. € 98,00 [D]
[1] Sentenz in Anlehnung an Kempowski; Walter: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. Band 1. München 1993. S. 7.
[2] Schallie, Charlotte: Verwalter der Erinnerung. In: H-German, H-Net Reviews. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=11330 (28.05.2011).
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Auszug aus meiner Rezension zum Werk von Babette Kaiserkern: „Luigi Boccherini. Leben und Werk – Musica amorosa“
Die Journalistin und Musikwissenschaftlerin Babette Kaiserkern veröffentlichte vor zwei Jahren die erste umfangreiche deutschsprachige Biographie über den italienischen Komponisten und Cellisten der vorklassischen Epoche. Eine Rezension zu ihrem Werk habe ich für die musikwissenschaftliche Zeitschrift „DIE TONKUNST“ geschrieben. Die Biographie konnte mich beim kritischen Lesen nur teilweise überzeugen, wie das hier veröffentlichte Fazit meiner Rezension zeigt:
Auszug aus: „DIE TONKUNST, April 2016, Nr. 2, Jg. 10 (2016), ISSN: 1863-3536, S. 211-213“ (mit freundlicher Genehmigung der Redaktion):
Die Autorin hat für diese Biographie vorbildliche Quellenarbeit geleistet und aktuelle Forschungsergebnisse berücksichtigt. Die überzeugend klare Sprache der Autorin hält das Interesse an der Biographie des italienischen Komponisten wach und glättet manche erzählerischen Schwächen des Werkes. Einige Abschnitte hätten aus der Erzähllogik heraus durchaus anderen Abschnitten zugeordnet werden können, um einen schlüssigeren Erzählfluss herzustellen. Auch finden sich im Text zahlreiche Wiederholungen von Textstellen, die schon in vorangegangenen Abschnitten angeführt worden sind. […] Dem Leser, der sich mit Leben und Werk des Komponisten vertraut machen möchte, bietet die Monographie einen gut lesbaren Überblick. […]
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Bibliografische Angabe: Babette Kaiserkern: Luigi Boccherini. Leben und Werk Musica amorosa. Weimarer Verlagsgesellschaft 2014. 268 S., 28 €. EAN: 978-3-7374-0213-2
“Literatur und Gesellschaft online” ist das aktuelle Online-Literaturmagazin. Es sollen aber nicht nur die neusten Trends auf dem Buchmarkt beobachtet und rezensiert werden, sondern auch aktuelle gesellschaftspolitische und kulturwissenschaftliche Diskurse aufgegriffen werden. Am Jahresende werden die besten Beiträge als E-Book publiziert.
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Wigbert – Fragment einer Erzählung
Wigbert
Eine Erzählung
I
Es war der erste Frühlingssonntag, als sich Wigbert in seinen Garten begab, den er in Zeiten der Suche nach künstlerischer Inspiration besuchte. Die Sonne zeigte sich in ihrer mittäglichen Himmelsstellung, die Bienen und Hummeln umschwärmten die erblühten Kelche der Rosen und der Wind hauchte den Bäumen und Sträuchern eine sanfte Lebensbewegung ein. Wigbert suchte in dem Moment dunkler Vorahnung diese Stille der Natur. Er sog mit einem langen Aufblähen seines Brustkorbes den süßen Duft der Blumen und des frischen Grases in seine Lungen – und sein ganzer Körper fiel in eine Entspannung, die ihn eins werden lies mit der in sich ruhenden Leichtigkeit seiner Umgebung. […]
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Kubas bekanntester Autor wird 60
Morgen feiert der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura seinen sechzigsten Geburtstag. Bekannt wurde Padura durch seine Kriminalromane um den Polizeikommissar Mario Conde, mit denen er auch international Erfolge feiern konnte. Seine Werke umfassen zudem weitere Romane, Erzählbände, Reportagen und Interviews.
Im Jahre 2012 wurde er mit dem kubanischen Nationalpreis ausgezeichnet. Auch in Europa würdigte die literarische Welt seine Erzählkunst: 2013 wurde ihm in Frankreich der „Ordre des Arts et des Lettres“ verliehen und in diesem Jahr folgte der angesehene „Prinzessin-von-Asturien-Preis für Literatur“.
Der Unionsverlag veröffentlichte in diesem Jahr das neuste Werk des kubanischen Schriftstellers: „Die Palme und der Stern“. Ein Roman über die Geschichte seines Heimatlandes Kuba und das Leben zweier Schriftsteller aus unterschiedlichen Epochen.
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