Wigbert – Der vollständige Versuch

Es war der erste Frühlingssonntag, als sich Wigbert in den Garten begab, den er in Zeiten der Suche nach künstlerischer Inspiration besuchte. Die Sonne zeigte sich in ihrer mittäglichen Him­melsstellung, die Bienen und Hummeln umschwärmten die erblühten Kelche der Rosen und der Wind hauchte den Bäumen und Sträuchern eine sanfte Lebensbewegung ein. Wigbert suchte in dem Moment dunkler Vorahnung diese Stille der Natur. Er sog mit einem langen Aufblähen seines Brustkorbes den süßen Duft der Blumen und des frischen Grases in seine Lungen – und sein ganzer Körper fiel in eine Entspannung, die ihn eins werden ließ mit der in sich ruhenden Leichtigkeit seiner Umgebung.[1]

Doch etwas beunruhigte ihn. In seinem Kopf flatterten wieder wirre Ideen und verzerrte Bilder, Abbilder einer momentanen Seelendurchwanderung. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, den Ahnungen und Grillen Herr zu werden. Es half nichts, mit einem flirrenden Blick durchmaß er den Garten nach einem Ruhepunkt, der ihm sein inneres Gleichgewicht wiedergeben könnte. Dicht neben dem alten, knorrigen Apfelbaum, am verwitterten Holzzaun, wuchs eine wunderliche gelbe Blume. Ihr trompetenartiger Kelch und die weit aufgerissenen Blüten faszinierten ihn. Er kniete sich in Gras und betrachtete den zarten und feingliedrigen Aufbau dieser Pflanze. Die Blüten sahen aus, als ob Sie mit ihm in Kontakt treten wollten. Er neigte seinen Kopf ganz schräg zu dieser Blume, um ihre leise Stimme zu vernehmen. Aus der Nähe konnte man ein sanftes Bewegen der Lippen bei Wigbert erahnen. Es schien, dass er ihren anziehenden Gesang für sich deutete und in menschliche Worte übersetzte. Göttliche Stimmen hörte er aus ihrem Mund, ganz nah sah er sich in den Händen der Mächte, speiste an ihren Tischen, trank ihren blutroten Wein. Er spürte eine mächtige Hand, die ihn niederdrückte und wieder aufhalf. Der Glanz goldener Strahlen zeichnete sich an seinem Körper ab, er fühlte sich gestärkt und erhaben, als könnte er den Lauf der Welt verändern.

Wigbert erhob sich, ihm war ein wenig schwindelig, deshalb stützte er sich mit seiner linken Hand am Stamm des Apfelbaums ab. Sein Gesicht, mit sanften Zügen geschnitten, verfärbte sich in einen leicht weißen Ton. Doch nach einer kurzen Pause, eines tiefen Atemholens, fasste er sich.

Malen, ich muss diese wunderschöne Blume malen. Ihre innere Kraft will ich verewigen. Wo ist nur meine Staffelei? Das Goldgelb der Blüten soll den hellblauen Himmel kontrastieren. Der dunkle Schatten des Stängels soll sich mit dem Grün der Wiese mischen. Ihre Wurzeln sollen das bittere Blut der Götter aus der Erde saugen, das sie für uns zur ewigen Vereinigung vergossen haben.

Wigbert drehte sich in Richtung des weißen Pavillons. Dort stand eine in fahlem Grau gekleidete Person in unförmiger, wallender Bekleidung. Ihre Mundwinkel verzogen sich nicht ganz eindeutig zu einem sparsamen, aber einladenden Lächeln. Stand die Person ganz still, so schmiegte sich der leichte Stoff des Mantels und des Beinkleides um die Glieder und es deutete sich ein kräftig gebauter Körper an. Ein ins gelblich gehender Haarkranz zierte den Kopf, eine eingedrückte Nase und schmalen Lippen veredelten das Antlitz. Wigbert sah der grauen Person fragend ins Gesicht.

Wird er die Leinwand und meine Ölfarben gesehen haben? Wo habe ich die Malutensilien beim letzten Mal abgelegt?

Die graue Person streckte ihren langen Arm in Richtung des Gartenhauses aus, nur der ebenmäßig gestaltete Zeigefinger blieb in Richtung des Zieles gerichtet. Wigbert öffnete die etwas schwergängige Tür des Häuschens und schaute in das Innere. Neben Gartengeräten, die vereinzelt an der Wand hingen oder von einem Gärtner an die Holzwand gelehnt wurden, lag auf einem mit Schrauben an die Wand montiertes Regal seine Malerausstattung. Mit eiligen Griffen nahm er sich die Staffelei, die weiße Leinwand und die Farbtöpfe. Er platzierte die Staffelei nur wenige Schritte vom Apfelbaum entfernt. Wigbert musterte die Blume und murmelte, während er mit leichten Strichen und dichten Punkten das Gesehene in die Sprache der Malerei übersetzte, unverständlich anmutende Beschwörungen. In einigen Momenten hielt er kurz inne, zerzauste mit beiden Händen seine Haare, lachte nervös in sich hinein. Seine Pinsel tunkte er unbeholfen wie ein kleines Kind in die Farbtöpfe, die Tuben wirkten zerdrückt und zerknautscht. Mit seinen zittrigen Händen versuchte er die Trompetenblüten zu erfassen. Wigberts Jeanshose und die Turnschuhe sahen zerschlissen aus, ein weißes T-Shirt schlackerte um seinen dürren Oberkörper. Er wirkte wie ein asketischer Philosoph in einem mit überreifen Früchten und exotischen Blumen überladenden Ziergarten.

In seiner konzentrierten Arbeit bemerkte Wigbert nicht, dass plötzlich ein alter Mann in einem kittelartigen weißen Mantel hinter ihm stand und zögernd, fast väterlich, eine Hand auf seine Schulter legte. Auf seinem Kopf trug der Herr einen grauen Hut, der wie eine halbe Melone aussah. In dem Hutband steckten links und rechts kleine Gänsefedern.

„Was für ein schöner Frühlingstag, Wigbert! Riechen Sie nicht auch den frischen Duft der Gräser und der Blumen? Ein bisschen Pinseln kräftigt den Geist, nicht wahr? Was malen sie denn da?

Wigbert erschrak ob der Ansprache und Neugier des alten Herrn, den er den „Direktor“ nannte; mit seiner Anwesenheit hatte er nicht gerechnet. Ein ekelhaftes Schaudern durchzog seinen Körper. Der Direktor näherte sich seinem Bild und versucht Formen und Farben zu erkennen. Er beugte seinen Kopf so nah an das Bild, dass Wigbert glaubte, der Direktor versuche in dieses hineinzusteigen. Eine Deutung des Bildes gelang dem Mann mit dem kittelartigen Mantel nicht.

Er versteht mein Bild nicht. Der Direktor muss doch die gelbe Blume erkennen?

Wigbert verspürte Schmerzen in seinem Kopf und rieb sich mit verzweifelter Geste an seiner Nase. Er senkte sein Haupt und sah auf sich herunter. Das T-Shirt war über und über mit roten Farbflecken bespritzt. Er verspürte den unweigerlichen Drang zu brüllen und mit seinen Händen in die leere Umgebung zu schlagen. Der graue Wächter vom weißen Pavillon stand plötzlich neben ihm und hielt nun seine Arme fest. Wigberts Blick verengte sich in diesem Augenblick, er sah nur noch den blauen Himmeln und eine rötlich scheinende Sonne. Er spürte, wie ihm der Mund geöffnet und eine zuckrige Pille auf seine trockene Zunge gelegt wurde. In einem Moment der Entspannung neigte er seinen Kopf zum Direktor. Dieser wies mit seinem Arm in Richtung des mit Türmen besetzten Herrenhauses. Einige Besucher traten aus der Verandatür. Eine elegante Frau mit aufgespanntem Schirm und weitem Rock, dazu zwei Kinder in weißen Leinenkleidern. Wigbert vernahm noch das laute Lachen und Winken, während seine Augenlider immer schwerer wurden und sich schlossen.

[1]         Der erste Absatz der Kurzgeschichte wurde schon im Jahre 2017 auf meinem Blog http://www.literaturundgesellschaft.com veröffentlicht

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